Vor 80 Jahren: Wanderung am Vorabend der Katastrophe

Historisches Foto von WandergruppeAm 17. Mai 2023 jährt sich zum 80. Mal der Tag der Möhnekatastrophe, die allein in Neheim etwa 1000 Menschen den Tod brachte. Nichts ahnend hatten unsere Altvorderen nur wenige Stunden vorher ihre traditionelle Maiblumenwanderung unternommen. Diese ungewöhnliche Wanderung haben wir anhand alter Unterlagen rekonstruiert und wollen sie sozusagen in einem stillen Gedenken wiederholen.

Im Wanderplan des Jahres 1943, der anlässlich der Jahreshauptversammlung der SGV-Abteilung Neheim am 28. März 1943 veröffentlicht wurde, war die Maiblumenwanderung noch für den 23. Mai ausgeschrieben. Laut dem Jahresbericht hat sie dann aber schon am 16. Mai stattgefunden. Zwei Gründe mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein: Der Muttertag wurde begangen und das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite.

Vierzig Personen nahmen an der Maiblumenwanderung 1943 teil

Historisches Foto der Volkshalle in NeheimSo trafen sich um 14.00 Uhr an der Volkshalle (heute Parkplatz vor dem Möhnesportplatz) insgesamt 40 Personen, 13 Männer, 10 Frauen und 17 Jugendliche. Es war die am besten besuchte Wanderung dieses Jahres, ansonsten bewegen sich die Teilnehmerzahlen zwischen 5 und 21 Personen. Leider ist nicht bekannt, ob von den Wanderern und Wanderinnen in der folgenden Nacht einige ums Leben gekommen sind. Vermerkt sind lediglich „16 Abgänge” im Jahr 1943, wobei es sich aber auch um normale Sterbefälle oder um im Krieg gefallene Soldaten handeln kann. Denen stehen andererseits starke Zugänge gegenüber, nämlich 40 Vollmitglieder, 68 Jugendliche und 9 Frauen, sodass die Abteilung am Ende des Jahres 1943 insgesamt 501 Mitglieder zählte.

Wir wissen nicht genau, welchen Weg die Maiblumenwanderer genommen haben, kennen nur einige Zwischenstationen. Demnach ging es auf einer Strecke von 13 Kilometern über Ruhne und Dahlhoff nach Niederense. Von dort fuhren die Wanderinnen und Wanderer mit der Kleinbahn zurück nach Neheim. Wir können sicher sein, dass sich von den Teilnehmern niemand vorzustellen vermochte, dass nur 11 Stunden später vom Treffpunkt, der mächtigen, etwa 3000 Personen fassenden Volkshalle kein Stein mehr auf dem anderen stehen würde. Auch die Kleinbahnstrecke durch das Möhnetal wurde weitgehend zerstört.

Logo Tag des Wanderns am 14. MaiDie Haarhöhen, über die die SGVer wanderten, blieben von der Katastrophe unberührt. In seinem Festvortrag zum 75-jährigen Bestehen der SGV-Abteilung Neheim 1965 berichtete der Lehrer und Heimatforscher Bernhard Bahnschulte, der selbst an der Wanderung teilgenommen hat, man habe am Himmel in großer Höhe ein silbern glänzendes Flugzeug beobachtet. Möglicherweise hat es sich dabei um einen britischen Aufklärer gehandelt, der wenige Stunden vor Beginn des Angriffs auf die Möhnetalsperre noch einmal die aktuelle Situation erkundete.

Der Krieg bestimmte weitgehend das öffentliche Leben

Obwohl der seit 1939 geführte Krieg auch in Neheim schon sehr stark das öffentliche Leben bestimmte, ließ sich auf der Maiblumenwanderung bei herrlichem Wetter tiefster Frieden genießen. In Neheim waren bis dahin nur vereinzelt Bomben gefallen, unter anderem 1940 mit einem Treffer am Kolpinghaus, in dem damals ein Lazarett eingerichtet war.

BuschwindröschenVor allem im Dahlhoff, dem Waldgebiet Dahlhoffsbusch bei Oberense, werden die SGVer wohl bei den Blumen besonders fündig geworden sein. Alte Fotos aus dieser Zeit zeigen vor allem die Jugendlichen, zeitgenössisch mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen bekleidet, und die Frauen mit großen Blumensträußen, die sie stolz nach Hause trugen. Im Jahre 1943 wurde die Maiblumenwanderung nur als Nachmittagswanderung ausgeführt, in anderen Jahren auch ganztägig über die Gaststätte Heideröschen an der Straße nach Werl. Auch andere Ziele wurden angesteuert, zum Beispiel über Gut Habbel nach Herdringen.

Gegen 1.00 Uhr erreichte die bis zu 15 Meter hohe Flutwelle Neheim

Es war wohl ein glücklicher Umstand, der den Wanderwart, damals Emil Lamberty, veranlasst hat, die Wanderung um eine Woche vorzuziehen. Am ursprünglich geplanten 23. Mai wäre sie wohl nicht mehr möglich gewesen. Denn in der Nacht gegen 1.00 Uhr hatte die nach dem Bruch der Möhnesperrmauer bis zu 15 Meter hohe Flutwelle Neheim erreicht und alles fortgerissen, was ihr im Weg stand: Gebäude, darunter auch das große Zwangsarbeiterlager auf den Schlachtwiesen (heute Einmündung der Graf-Gottfried-Straße in die L 745), in dem wohl mehr als 1000 Frauen eingesperrt waren, Bäume, Leitungsmasten, Menschen und Tiere. Da auch sämtliche Brücken verschwunden waren, blieb das jenseitige Ufer der Möhne von der Innenstadt aus zunächst unerreichbar. Wer Leib und Leben gerettet hatte, musste aber oft den Verlust von Hab und Gut beklagen. Und es gab viel aufzuräumen, daher kaum Zeit und Lust zum Wandern.

Doch schon im Juni, so verrät uns der Jahresbericht, nahm die SGV-Abteilung Neheim ihr Wanderprogramm wieder auf. Einige Treffpunkte, wie die Volkshalle oder auch das HJ-Heim (HJ = Hitlerjugend) an der Möhnepforte, waren in der großen Flut untergegangen und kamen nicht mehr vor. Nun wanderte man vom Bahnhof zum Gut Stiepel, vom Lyzeum (heute St.-Ursula-Gymnasium) nach Hüsten und auch vom Ehmsenplatz nach Himmelpforten, das ehemalige Kloster bei Niederense, das durch die Katastrophe ebenfalls völlig zerstört worden war.

Gemälde der ehemaligen Wasserburg WaterlappeDie rekonstruierte Maiblumenwanderung findet nun am Sonntag, dem 14. Mai 2023 statt, wie vor 80 Jahren der Muttertag. Gleichzeitig wird bundesweit der Tag des Wanderns begangen. Treffpunkt ist wie damals um 14.00 Uhr, wegen der nicht mehr bestehenden Volkshalle jetzt der Eingang zum Möhnesportplatz. Von dort geht es auf einer mittelschweren, etwa 14 Kilometer langen Strecke über den Fürstenberg, Lüttringen, Waterlappe bei Bremen, Ruhne und Dahlhoffsbusch nach Niederense, von dort Rückfahrt mit dem Bus nach Neheim. Verpflegung, vor allem Getränke, sollten mitgeführt werden. Empfohlen wird wetterfeste Kleidung, vor allem feste Schuhe, da der Weg zum Teil sehr uneben ist. Wanderführer ist Helmutheinz Welke, Tel. 02932 23627.